Die Wurzeln Europas in der Antike

Was verdankt Europa der Antike? Oder: Was sind die fortlebenden antiken Elemente in der Nachantike, die vielleicht noch bis in unsere heutige Zeit hineinreichen? Mit solchen und ähnlichen Fragen befassten wir uns im Rahmen eines Vortrags unseres Clubmitglieds Prof. Dr. Theodora Hantos an einem verschneiten Februarabend im Landhaus Wacker. Traditionen und Renaissancen wurden uns in ihrer großen Vielfalt vor Augen geführt. Da gibt es den Bereich der Kultur im engeren Sinne: Sprache, Dichtung, Musik, bildende Kunst, Architektur, Geisteswissenschaften. Hier ging Frau Prof. Dr. Hantos vor allem auf das antike Drama, die Architektur und die lateinische Sprache ein, die nicht nur eine lange Zeit über die Sprache der Kirche, der Höfe und der Wissenschaft war, sondern auch die Gruppe der europäischen Sprachen grundlegend beeinflusst hat. Als zweiten großen Bereich behandelte sie den der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Technik. In Bezug auf die Mathematik verwies sie auf den anwesenden Prof. Dr. Wolfgang Hein, der ein grundlegendes Buch über die Mathematik in der Antike veröffentlicht hat, das mit dem Satz beginnt: „“Mathematik, wie wir sie heute kennen und in nahezu allen Lebensbereichen bewusst oder unbewusst anwenden, hat ihre Wurzeln im antiken Griechenland“. Ausführlich ging sie auf die wissenschaftlich-technischen Leistungen der Römer ein, darunter auch auf das technische Meisterwerk der Eifelwasserleitung, aus der die damaligen Bewohner Kölns täglich zwanzig Millionen Liter Trinkwasser bezogen haben und das die drittlängste Wasserleitung des römischen Imperiums war. Die Grundlagen dafür, dass solche und andere technische Errungenschaften möglich wurden, legten die Griechen in sehr früher Zeit. Sie haben damit begonnen, Erscheinungen der Natur nicht mehr mit dem Willen der Götter, sondern als Folge natürlicher Phänomene zu erklären. Sie benannten darüber hinaus das Prinzip, nach dem naturwissenschaftliche Forschung zu betreiben ist: die Sammlung einer möglichst großen Menge von Tatsachen, aus denen Schlüsse gezogen werden können. Als dritten großen Bereich behandelte sie den Bereich von Staat, Gesellschaft und Recht. Die Mehrzahl der Staaten heute nennt sich, durch die klassische Tradition geprägt, nach römischem Vorbild „Republik“ und nach griechischem Vorbild „Demokratie“. Das Prinzip, das dem Staat der Athener und dem der Römer gemeinsam ist, ist das Prinzip der Partizipation, die Selbstregierung der Bürger. Die Autonomie des städtischen Bürgertums ist ein Spezifikum Europas geworden. Der antike Stadtstaat der Griechen und Römer als die Organisation einer selbstbestimmten Bürgerschaft brachte schließlich ein Rechtssystem hervor, das für ganz Europa ebenfalls spezifisch werden sollte. Bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 war das römische Recht in Deutschland gültig, und viele Strukturen, Begriffe, gesetzliche Regelungen aus dem römischen Recht sind im BGB beibehalten worden.

Zum Schluss wurde uns sehr deutlich: Gleichgültig, wie viel wir uns über Europa streiten mögen, über Haushaltsfragen, Griechenland, Brexit, Quoten für Flüchtlinge, mehr Brüssel oder weniger Brüssel, mehr Nationalstaat oder weniger Nationalstaat, Erweiterung oder eher Verschlankung, ein Europa mit einer Geschwindigkeit oder mit mehreren Geschwindigkeiten – es verbindet uns, wahrscheinlich sehr viel stärker, als es uns bewusst ist, unsere gemeinsame Identität. Wir haben dieselbe Art und Weise, durch unsere Sprachen die Welt zu erfassen, wir verfügen über dieselben Methoden, die Natur zu erforschen, wir haben ähnliche Vorstellungen über die Ausgewogenheit von Proportionen, wir leben in Staaten, in denen das Prinzip der Partizipation des einzelnen Bürgers gilt und ein Recht, das auf dem gemeinsamen Fundament des römischen Rechts gründet. Das ist ein starkes gemeinsames Fundament, auf das wir ein – wie auch immer noch im Einzelnen zu gestaltendes – zukunftsträchtiges Europa werden aufbauen können.